Drittmittelprojekt

Libertinismus in Deutschland um 1800

Im Libertinismus verbinden sich die Ablehnung religiöser Autorität und die emphatische Bejahung der sexuellen Lust als Bestandteil der Natur. Das Forschungsprojekt untersucht libertine Strömungen in der deutschen Literatur um 1800.

 

Im Libertinismus verbinden sich die Ablehnung religiöser Autorität und die emphatische Bejahung der sexuellen Lust als Bestandteil der Natur. In Deutschland galt der Libertinismus lange Zeit nur als Ausdruck französischer Amoralität – ein Urteil gefällt auf der Grundlage eines Idealismus, der hierzulande einseitig die intellektuelle Kultur prägte. Während der Libertinismus in Frankreich seit den 90er Jahren des 20. Jahrhundert untersucht wurde und seine wichtigsten Schriften sogar Aufnahme in den Olymp der bibliophilen Klassiker fanden, hat die Germanistik bislang diese Schriften nicht als Untersuchungsgegenstand zugelassen: Als literarisches Phänomen ist er zwar nicht Pornographie, aber er bedient sich pornographischer Sprache. Das Projekt untersucht ebendiese Verbindung von pornographischen oder zumindest erotischen Schreibweisen mit einer Absage an kirchliche Autoritäten, die, gewissermaßen als Idee eines neuen Heidentums, über ‚Bückware‘ hinaus bis in die sogenannte hohe Literatur reicht. Es nimmt damit Fragestellungen auf, wie sie Robert Darnton, Jean-Pierre Dubost und Péter Nagy zum Libertinismus französischer Prägung formuliert haben.[1]

Berlin und Wien bleiben in der ganzen 2. Hälfte des 18. Jahrhundert die deutschen Zentren freizügiger Literatur und freizügigen Lebens. Libertine Schriften aber verbreiten sich nicht nur hier. Auch wenn man die Anakreontik und Gleim nicht für heimlich libertin halten mag (wie in der Forschung vorgeschlagen wurde), so wird in diesem Umkreis mit dem Anschluss an französische Muster doch etwas vom Pariser Libertinismus nach Deutschland übertragen; dafür stehen die einst berüchtigten Gedichte im Geschmack des Grecourt von Scheffner.

Ab den 1770er Jahren lässt sich in der Nachwirkung der Anakreontik und in der Generation der ‚Stürmer und Dränger‘ beobachten, wie libertines Gedankengut in die literarische ‚Avantgarde‘ eindringt. Einige Kurzdramen des jungen Goethe bringen das Antichristentum, das ihn später begleiten wird, in eine unflätige Sprache. Gottfried August Bürger und vielleicht einige Autoren aus seinem Umkreis lassen obszöne Gedichte drucken. Und Jakob Reinhold Michael Lenzʼ Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen (1780) sind eine Sammlung kleiner libertiner Texte von seltener theoretischer Eindeutigkeit.

In Erfurt muss sich schon einige Jahre früher unter Wielands Studenten ein richtiger Infektionsherd gebildet haben, wo man u. a. Bücher wie La Chandelle d’Arras des wenig zuvor drakonisch bestraften Skandalautors Abbé Du Laurens las. Der wichtigste unter den Wieland-Schülern war Wilhelm Heinse; und seine Übersetzung von Petrons Satyrikon, 1773 erschienen unter dem Titel Begebenheiten des Enkolp, sind ein Hauptwerk nicht nur des Libertinismus im 18. Jahrhundert, sondern auch der deutschen Literatur der Zeit, weil hier die deutsche Sprache eine ganz neue, revolutionäre Kraft erhält. Heinses Vorwort ist eine theoretische Begründung des Libertinismus für Deutschland, wie sie in Frankreich kaum ihresgleichen hat.
Interessanterweise übernimmt Heinse mit der (philologisch fragwürdigen) Petron-Edition des François Nodot auch Teile von dessen Vorwort, nur dass er die Tendenz umdreht. Während Nodot in Petronius einen Moralisten zu sehen behauptet, stilisiert Heinse ihn zum Libertin!

Skandalträchtig war Heinses Vorwort mit seiner Verteidigung der Knabenliebe; es mag neben der Übersetzung selbst auch dieses Vorwort gewesen sein, das Wieland aufbrachte. Aber Wieland machte in „Juno und Ganymed“ der Comischen Erzählungen wenige Jahre zuvor eben diese Knabenliebe zum Gegenstand und wurde dafür von den Rezensenten nicht weniger angegriffen, als er in Briefen Heinse anging. Wieland hatte eine Vorliebe für die neuere französische Literatur mit frivolem (aber nicht obszönem) Grundton (und gerne märchenhaftem Einschlag); Heinse schätzte wohl auch die obszönen Romane aus Frankreich, beide aber verkleideten ihre erotische Literatur antikisch, Wieland im Götterhimmel, Heinse in einer Übersetzung.

Deutsche Ausgabe von Julien Offray de La Mettries L'art de jouir (1751, mit fiktivem Erscheinungsort)

Deutsche Ausgabe von Julien Offray de La Mettries L'art de jouir (1751, mit fiktivem Erscheinungsort)

Im deutschen Sprachraum finden die libertinen Romane und Erzählungen aus Frankreich nicht nur im Original und in Übersetzungen ein Echo – den 1748 erschienenen Roman Thérèse philosophe, einen der Klassiker des Libertinismus, verfasste der Marquis Boyer d’Argens in den 1840er Jahren in Berlin, wo er Kammerherr am Hof Friedrichs II. und (seit 1744) Direktor der Philologischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften war. Im Berliner Exil entstand auch Julien Offray de La Mettries L’art de jouir; gedruckt wurde das Buch drei Jahre nach Thérèse philosophe hier auf Deutsch. In Gestalt solcher Schriften verlässt der Libertinismus den streng clandestinen Bereich und erreicht einen Teil der gebildeten Öffentlichkeit. Wie dies geschehen ist und wie Grundzüge der libertinen Gedankenwelt in die deutsche ‚Hochliteratur‘ der Goethezeit eingewandert sind, soll in einer Studie und einer umfangreichen Textsammlung sichtbar gemacht werden. Neben dem protestantischen Berlin war das katholische, spätbarocke Wien ein Zentrum weniger der freigeistigen als der freizügigen Literatur. Joseph II. hielt entschieden Distanz zu diesem Milieu, traf sich aber mit einigen der Autoren zwielichtiger Bücher in der Abneigung gegen den Klerus.

Besonders interessant sind die libertinen Strömungen in Goethes Schreiben. Der junge Goethe erkundet die Grenzen zwischen christlicher und heidnischer Naturphilosophie und die Grenzen der Sprache. Vor allem im Umfeld der italienischen Reise tritt dies zutage, man erinnere sich nur an die Bemerkungen über Raffaels Heilige Cäcilie in Bologna, oder an antiklerikale Bemerkungen in Rom. Die Briten Tobias Smollett oder Samuel Sharp haben sich in ihren Italienbüchern undifferenziert antipäpstlich ereifert und Partei für die Reformationskirchen genommen; im Vergleich dazu sind Goethes Passagen von einem Heidentum durchzogen, das zurückhaltender formuliert ist, aber sich dabei mit Entschiedenheit alle christlichen Kirchen gleichermaßen fernhält. Dazu passen die Anverwandlungen lateinischer Literatur in den Römischen Elegien und den Venezianischen Epigrammen; der offen erotische, stellenweise obszöne Ton hat bekanntermaßen Zeitgenossen zu Mahnungen veranlasst und die Nachfahren zur Schere greifen lassen. In Frankreich hat die Pariser Gesellschaft den Rahmen für eine libertine Literatur gegeben. In Deutschland gab es eine ‚Gesellschaft‘ als Durchmischung von Hof, Adel und gehobenem Bürgertum (gewissermaßen als ‚gute Gesellschaft‘) nur in Berlin und Wien. Aber auch hier ist es nicht einfach, einen dem Französischen vergleichbaren, dabei genuin deutschen erotischen Code in seiner literarischen Spiegelung zu finden.

Illustration zu Goethes 5. Römischer Elegie von Johann Heinrich Ramberg (1801)

Illustration zu Goethes 5. Römischer Elegie von Johann Heinrich Ramberg (1801)

Die Idee einer im Kern libertinen Antike mögen die Funde in Herculaneum und Stichwerke wie die Hancarvilles befördert haben. Und so projizieren Heinse, Goethe und manche ihrer Zeitgenossen libertine Ideen und libertine Schreibweisen in die Antike und in die ‚zweite Antike‘, die Renaissance, oder entwickeln sie nach deren Mustern. Die Rezeption von Antike und Renaissance dient hier auch als Schamvorhang für den Libertinismus. In keinem Buch wird das deutlicher als in Heinses Ardinghello (1787); dieser Roman ist das Kernstück des deutschen Libertinismus, er verhandelt die damit verbundenen Fragen und entwirft am Ende die ‚glückseligen‘ Inseln als libertine Gesellschaft – für französisches Denken, das den Libertin nur asozial denken will, ein Widerspruch in sich. Deshalb haben die Zeitgenossen den Roman auch als obszön empfunden.

Diese Spuren zu erforschen, ist das Ziel des von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur geförderten Projekts. Für die geplante Studie wie für die Textsammlung sollen radikalaufklärerisch-antireligiöse, frivole und obszöne Texte zueinander in Beziehung gesetzt, bekannte und unbekannte Autoren ins imaginäre Gespräch gebracht werden. Es wird dabei auch ins Auge zu fassen haben, welche Bedeutung der libertine Teil der Aufklärung für die Gegenwart hat.

 


[1] Robert Darnton: Édition et sédition. L’univers de la littérature clandestine aus XVIIIe siècle. Paris 1991 (nrf essais); Robert Darnton: Denkende Wollust oder Die sexuelle Aufklärung der Aufklärung. In: Robert Darnton (Hrsg.): Denkende Wollust. Frankfurt a.M. 1996; Jean-Pierre Dubost: Eros und Vernunft. Literatur der Libertinage. Frankfurt a. M. 1988; Péter Nagy: Libertinage et révolution. Paris 1975.