Auch außerhalb Frankreichs, wo sie zweifelsohne ihren Mittelpunkt hatte, gibt es libertinistische Bewegungen, auch wenn sie deutlich schlechter erforscht sind. Zu nennen ist etwa Kristina von Schweden (1626–1689), die ihren Lebensmittelpunkt schon früh nach Rom verlegte, wo sie zur Beschützerin vieler Freigeister wurde, auch weil sie selber ein freigeistiges Leben führte. In London begünstigte die Atmosphäre in den drei Jahrzehnten zwischen dem Tod Cromwells 1658 und der Glorious Revolution die Libertinage und auch die Entstehung einer libertinistischen Kultur und einer libertinen Literatur (man denke nur an John Wilmot, 2. Earl of Rochester), die deutlich weniger antiklerikal geprägt waren als in Frankreich, deren Nachwirkungen aber noch bis weit ins 18. Jahrhundert zu spüren sind (Daniel Defoe, John Cleland). Eine eigentliche libertinistische Szene mit klar antirömischer Stoßrichtung hatte sich hingegen schon im früheren 17. Jahrhundert in Venedig im Umkreis der Accademia degli Incogniti gebildet; die Autoren profitierten hier nicht nur von der Nähe der antiken Autoren, die nachzuahmen man gerne vorgab, sondern auch von der lang anhaltenden politischen Gegnerschaft Venedigs gegenüber dem Kirchenstaat – und von der seit dem 16. Jahrhundert in der Lagunenstadt sorgfältig gezüchteten freizügigen Atmosphäre, dem Hetärenwesen, das so viele Reisende auch später noch zu schätzen wussten.[1] Zu nennen ist vor allem der Kreis um Francesco Loredano: Antonio Rocco, der mit einem Traktat über die Unsterblichkeit der Seele ebenso wie einem Dialog über die Homosexualität hervortrat (um 1650!), oder Ferrante Pallavicini, dessen biblisch verkleidete Anzüglichkeiten ihn 1644 in Avignon aufs Schafott brachten.
[1] Vgl. Le cortigiane di Venezia dal Trecento al Settecento. Il gioco dell’amore. Mailand 1990 (zugleich Ausstellungs-Katalog Venedig, Casino municipale Ca’Vendramin Calergi).