Einführung

Der Bericht des Ägypters Rifā’a al-Tahtāwī[1], der in Paris von 1826 bis 1831 lebte, beschreibt die europäische Modernität, die er als Gesandter des ägyptischen Vizekönigs erkunden sollte, neben anderen mit folgenden, ihn irritierenden Eigenheiten: Die Pariser hielten der Religion gegenüber eine spöttische Distanz und fühlten sich keineswegs an ihre Gesetze gebunden, ihre führenden Köpfe seien von der Überlegenheit der Philosophie über jede Offenbarungsreligion überzeugt und die Männer seien dem Willen der Frauen unterworfen, die ein freizügiges und selbstbestimmtes Liebesleben führten. Dieser hier zwiespältige arabische Blick auf die moderne abendländische Großstadt wirkt derzeit merkwürdig aktuell, nur dass der Islamismus diese Eigenheiten heute zur Zeichnung der Modernität als Teufelsreich benutzt.

Wenn die Gegenwart die Fragen an die Geschichte verändert, so rückt hier zwingend ein Phänomen in den Blick, das als historisches zwar seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert wieder Aufmerksamkeit gefunden hat, dessen Einwirkungen auf die Gegenwart aber kaum Beachtung gefunden haben: der Libertinismus. Patrick Wald Lasowski, dessen Forschungen heute vielleicht den wichtigsten Beitrag zu diesem Phänomen darstellen, gibt folgende Definition des Begriffs:

À travers la multitude de représentations qu’il met en jeu, trois notions marquent l’histoire de libertinage: l’affranchissement de l’autorité religieuse; la recherche du plaisir sexuel; l’outrance du dérèglement.[2]

Diese drei Eigenheiten, die seine Geschichte ausmachen, hängen miteinander zusammen: Der Kampf gegen die Autorität der Kirche und die von ihr gestützte weltliche Macht steht in Wechselwirkung zur Freiheit der sexuellen Lust, schon weil darin das Ich auf seine körperliche Natur, nicht auf seine unsterbliche Seele zentriert ist: Viele Libertins sind denn auch ausdrückliche Leugner der unsterblichen Seele.

„Le libertin est l’être du dérèglement“[3], diese Folgerung Wald Lasowskis ist auf historische Libertins gemünzt, lässt sich aber auf literarische Gestalten übertragen. Eine der frühesten ist Molières Don Juan. In der Bettlerszene ist Don Juan ein Almosen nur zu geben willens, wenn der fromme Arme bereit ist zu fluchen, was dieser als Sünde von sich weist. Wenn Don Juan auf seine Forderung verzichtet, so ist seine Menschenliebe so groß wie die Gottesfurcht des Bettlers (Szene III/2). Während der französische Hof nach dem Tod Ludwigs XIV. – in den Jahren der Régence – von der sexuellen Freizügigkeit beherrscht wurde, blieb diese Szene aus Molières Stück bis ins 19. Jahrhundert verbannt – wie auch zahlreiche ‚freizügige‘ Bücher im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der vielfach offen gelebten Libertinage, verboten blieben. Nicht das libertine Leben (das auch viele Kleriker führten), die libertinen Schriften waren „êtres du dérèglement“, die sich Verfolgungen ausgesetzt sahen; und ihre Verfasser lebten gefährlicher als die Pariser Roués.

Naturgemäß ist beides nicht immer streng voneinander zu trennen. Jean Calvin verfolgte mit den Wiedertäufern auch eine Sekte, die er „libertins spirituels“ nannte, von der jedoch keine Äußerung auf uns gekommen ist, so dass der Verdacht aufkommt, dass die Häresien und die sexuellen Freiheiten, die er ihnen zuschreibt, und vielleicht auch der Begriff Teil der Propaganda gegen radikale reformatorische Strömungen waren. Die ‚Konstruktion‘ libertiner Tendenzen zwecks Bekämpfung von wirklichen oder vermeintlichen Feinden der Kirche wird im 17. Jahrhundert die Spezialität einiger Theologen, von denen der Jesuit François Garasse besonders hervorsticht. Bei Garasse leben die Dichter gefährlicher als die Wüstlinge (er versuchte lange Théophile de Viau auf den Scheiterhaufen zu bringen), denn sie sind es, die das gottlose Leben in ihren Schriften verbreiten.

Es ist also durchaus sinnvoll, den Libertinismus nicht nur als Teil der Sozialgeschichte (der er zweifelsohne ist) zu behandeln, sondern auch als solchen der Literaturgeschichte. Dabei ist zu beachten, dass auch seine Verfolger wichtige Beiträge zum Libertinismus geliefert, ihn als Feindbild gewissermaßen mit herausgebildet haben. In eine Geschichte des Libertinismus gehören folglich auch die antilibertinistischen Schriften.

 


[1] Rifā’a al-Tahtāwī: Ein Muslim entdeckt Europa. Die Reise eines Ägypters im 19. Jahrhundert nach Paris. Hg. von Karl Stowasser. Leipzig / Weimar 1988, S. 73ff. und 142-145. Zum Zusammenstoß von Orient und Europa jüngst vgl. vor allem Kersten Knipp: Nervöser Orient. Die arabische Welt und die Moderne. Darmstadt 2016.

[2] Patrick Wald Lasowski: Dictionnaire libertin. La langue du plaisir au siècle des Lumières. Paris 2011, S. 268.

[3] Ebd. S. 270.