Der Begriff Libertinismus

Die Geschichte des Libertinismus ist nicht zuletzt eine Geschichte des Begriffs; um die Klärung seiner Bedeutung bemühen sich extensiv Lexika und Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Um den Forschungsgegenstand einzugrenzen, sei im Folgenden die Bedeutungsgeschichte skizziert.

Der Ausdruck selbst stammt aus dem römischen Recht und bezeichnet die ‚Freigelassenen‘. Für die spätere Verwendung dürfte aber eine Stelle aus der Apostelgeschichte (6, 9), die von der Steinigung des Hl. Stephanus handelt, prägender geworden sein: „surrexerunt autem quidam de synagoga quae appellatur Libertinorum et Cyrenensium et Alexandrinorum et eorum qui erant a Cilicia et Asia disputantes cum Stephano.“ Wer diese Sekte oder Schule der Libertiner war, die den Heiligen Stephanus zunächst befragte und zuletzt steinigte, ist bis heute eine in der Bibelwissenschaft ungelöste Frage (einige Vermutungen setzen freigelassene Juden ein). Der Begriff taucht 1544 bei Jean Calvin in seiner Schrift gegen die Wiedertäufer auf, die er gegen eine Gruppe geistiger Libertinisten abgrenzt: „Cette secte se nomme des Libertins.“[1] Gegen diese Libertinen, schlimmer als die Wiedertäufer, die sich wenigstens noch auf die Heilige Schrift stützten, verfasst er im folgenden Jahr ein weiteres Pamphlet: Contre la secte phantastique et furieuse des Libertins qui se nomment spirituelz – eine Sekte von Schwärmern, Häretikern und Polygamisten, die die Wirklichkeit des Teufels leugneten und dem Menschen die Fähigkeit zugestünden, in der Welt ein vollkommenes Leben zu führen. Die neuere Forschung vermutet darin die Anhänger von Thierry Quintin und Antoine Pocque.[2] Ob diese sich selbst so bezeichneten, wie Foucault vermutet, ob Calvin eine gängige Benennung aufnimmt oder sie gar prägt[3], kann hier dahingestellt bleiben. Sicher ist nur, dass die Durchdringung von geistiger Häresie und „licence charnelle“ (so Calvin[4]) fortan als sich wechselseitig bedingende Wesenszüge devianter Charaktere den Begriff des Libertinen beherrschen wird. Greifbar ist diese Durchdringung auch in einem Schriftstück, das die Lehren des im selben Jahr 1544 bei lebendigem Leibe verbrannten Antwerpener Schieferdeckers und Sektenführers Loy Pruystinck zusammenfasst und worin die Rede ist von „a carnis libertate, quam illorum doctrina permittere videtur“, also „von der Freiheit des Fleisches, welche ihre Lehre zu erlauben scheint.“[5] Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts ist „Libertin“ also ein diffamierender Ausdruck, gebraucht seitens der orthodoxen Theologie oder der weltlichen Obrigkeit gegen Gruppen, die ein eigenes Gottes- und Weltverständnis mit einer devianten Lebensführung verbanden; die Beschuldigung war für die Betroffenen brandgefährlich, weil sie jederzeit zu einer Anklage und auf den Scheiterhaufen führen konnte. Über das Gottes- und Weltverständnis und die Lebensführung der Beschuldigten, der Libertinen, hingegen sagt die Diffamierung wenig aus; und aus ihren Kreisen haben sich kaum Zeugnisse erhalten. Und auch wenn Didier Foucault eine libertine Lebenspraxis bis in die Zeit der Goliarden des 12. und 13. Jahrhunderts zurückverfolgen zu können glaubt[6], so wird ein von seinen Vertretern emphatisch bejahter Libertinismus erst im frühen und mittleren 17. Jahrhundert fassbar, im Umkreis von Théophile de Viau etwa oder im Umkreis der Accademia degli Incogniti in Venedig.

Die Durchdringung von Freigeisterei oder gar Häresie und freizügiger Lebensführung bleibt dabei und auch in den folgenden beiden Jahrhunderten dem Begriff eingeschrieben, wobei die Gewichtungen sich verändern und bemerkenswerterweise auch die Semantik von Libertin und libertinage sich über Kreuz hin- und her verschiebt. In Jean Nicots Grand dictionnaire français-latin von 1625 ist der Libertin mit „licencieux, débauché“ erklärt, die libertinage hingegen mit der „effrenata licentia des hérétiques, avec leur liberté de conscience“.[7] Bei Pierre Richelets Dictionnaire français contenant les mots et les choses von 1680 lautet die Worterklärung direkt: „Impie, qui est dans le libertinage, débauché.“, während es zu „libertinage“ heißt: „Dérèglement de vie. Désordre.“[8] Diese Verbindung moralischer und religiöser Freizügigkeit bleibt in den Wörterbüchern bis ins 18. Jahrhundert fassbar; so kann man noch im Dictionnaire de l’Académie Française von 1798 lesen: „Déréglé dans ses mœurs et dans sa conduite.“, aber auch: „Libertin signifie aussi, qui fait une espèce de profession de ne point s’assujettir aux lois de religion, soit pour la croyance, soit pour la pratique.“[9] Dabei hatte schon der Marquis de Caraccioli 1768 im Artikel „Libertin“ seines Dictionnaire critique, pittoresque et sentencieux auf einer Trennung der beiden Bedeutungen bestanden: „Ce nom ne signifie qu’un homme débauché, et non un impie, comme le disent certains dictionnaires“.[10]

Die gängiger werdende Trennung[11] von „homme débauché“ und „homme impie“ ist sicherlich auch Ausdruck dafür, dass viele noch im frühen 17. Jahrhundert für häretisch gehaltene Gedanken Eingang in den neuen Rationalismus und danach in die Aufklärung fanden. Ein frühes Anzeichen für diesen ‚Wertewandel‘ sind Pierre Bayles Pensées diverses sur la comète, die – als Kritik des Absolutismus zu lesen – zwischen Irreligiosität und Immoralität trennen und eine Gesellschaft von Atheisten für denkbar halten. Allerdings von atheistischen Philosophen, denn auch Bayle kennt und verabscheut einen Typus von ‚Libertin‘, der ein leichtfertiges Leben mit einer leichtfertigen Zunge und der puren Lust, Religion und Moral der Lächerlichkeit preiszugeben, verbindet – ihn will auch Bayle verfolgt sehen.[12]

An diesen Stellen liest sich Bayles Traktat wie eine vorweggenommene Kritik der Régence. Die Durchsetzung der Libertinage am französischen Hofe nach dem Tod Ludwigs XIV. 1715, die Entstehung der Figur des „Roué“ am Hof, in der gehobenen Pariser Gesellschaft und in der Literatur erlebte Bayle freilich nicht mehr. Libertinage wurde eine Lebensform. Ihr hat Benedetta Craveri eine eben erschienene, umfangreiche Studie gewidmet: Sie untersuchte sieben Angehörige des französischen Hochadels, die ihr Leben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts selbstverständlich libertin führten, alles Männer übrigens, obwohl die Autorin durchaus einräumt, dass die Freiheit in der Lebensführung des Adels im 18. Jahrhundert beiden Geschlechtern zugestanden habe.[13] Einer der Untersuchten, der Duc de Lauzun (Armand-Louis de Gontaut, Duc de Biron), hat umfangreiche Memoiren hinterlassen, die nach Erscheinen 1821 verboten wurden; zwei andere, Stanislas de Boufflers und Louis-Philippe de Ségur, waren Schriftsteller. Boufflers ist Verfasser der Erzählung La Reine de Golconde (1761), die regelmäßig in Anthologien libertinistischer Schriften aufgenommen wird und bereits 1782 ins Deutsche übersetzt wurde.[14]

Nicht alle Libertins waren Schriftsteller – und nicht alle libertinen Schriftsteller Libertins (der Deutsche Wilhelm Heinse ist dafür ein besonders eindringliches Beispiel). Für viele der libertinen Philosophen – man denke nur an Diderot oder Mirabeau – stand freilich die Freiheit des Geistes in enger Verbindung mit der der Lebensführung – sie verachteten den Roué, der Gegenstand ihrer beißenden Satiren wurde. Vielleicht erklärt sich so das Paradox, dass sie mit der Freigeistigkeit im Sinn antraten, die Libertinage der Eliten zu beseitigen und die Moral im Staate wiederherzustellen.

 


[1] Brieve Instruction pour armer tous bons fideles contre les Erreurs de la secte commune des Anabaptistes, Genf 1544, in: Jean Calvin: Œuvres. Hg. von Francis Higman und Bernard Roussel. Paris (Bibliothèque de la Pléiade) 2009, S. 626.

[2] Didier Foucault: Histoire du libertinage. Des goliards au marquis de Sade. Paris 2010, S. 225ff.

[3] Ioannis Calvini scripta didactica et polemica. Hg. von Mirjam van Veen. Bd. 1. Genf 2005 (Opera omnia 4;1). Einleitung der Herausgeberin, S. 9.

[4] Calvin, Œuvres, S. 739.

[5 Gerhard Schneider: Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert. Stuttgart 1970, S. 50f.

[6] Foucault, Histoire du libertinage, S. 13-40.

[7] Romans libertins du XVIIIe siècle. Hg. von Patrick Wald Lasowski u.a. 2 Bde. Paris (Bibliothèque de la Pléiade) 2000-2005, Bd. 2, S. 1321. Wald Lasowski hat die wichtigsten lexikalischen Zeugnisse vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zusammengestellt.

[8] Ebd. S. 1323.

[9] Ebd. S. 1347.

[10] Roman libertins du XVIIIe siècle, Bd. 1, S. IX.

[11] Vgl. Schneider, Der Libertin, S. 215ff.

[12] Ebd. S. 210-215.

[13] Benedetta Craveri: Gli ultimi libertini. Mailand 2016, S. 20.

[14] Yong-Mi Quester: Frivoler Import. Die Rezeption freizügiger französischer Romane in Deutschland (1730 bis 1800). Mit einer kommentierten Übersetzungsbibliographie. Tübingen 2006, S. 261, Nr. 10.