Stand der Forschung

Der Libertinismus, Freigeisterei und Libertinage außerhalb Deutschlands sind inzwischen breit erforscht, vor allem mit dem Fokus auf Frankreich.

Die wichtigste Grundlage bilden verschiedene Textsammlungen: für das 17. Jahrhundert vor allem jene fünfzehn Bände, die Frédéric Lachèvre schon von 1909 bis 1928 u.d.T. Le Libertinage au XVIIe siècle zusammengestellt hatte, sowie die beiden von Jacques Prévot besorgten Bände in der Bibliothèque de la Pléiade. Ebenfalls in der Pléiade erschienen ist Patrick Wald Lasowskis Sammlung der Romans libertins du XVIIIe siècle. Die vier Bände der Pléiade machen nicht nur zahlreiche wichtige Texte überhaupt erst zugänglich, sondern spüren auch ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte nach. Zu nennen ist darüber hinaus die von Raymond Trousson erstmals 1993 in der Reihe Bouquins herausgebene Sammlung der Romans libertins du XVIIIe siècle.

Einen historischen Überblick über das Phänomen in Europa vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution gibt das Buch von Didier Foucault. Zuletzt erschienen, aber auf Paris konzentriert ist die umfangreiche Untersuchung zu den „ultimi libertini“ von Benedetta Craveri, die auf umfassendem Quellenstudium beruht und einige weniger bekannte Autoren zutage gefördert hat.  Patrick Wald Lasowski, Herausgeber der beiden Pléiade-Bände zu den Romans libertins du XVIIIe siècle, verfasste eine ganze Reihe von Studien sowie einen Dictionnaire libertin, der nicht nur die einschlägigen Begriffe enthält und erklärt, sondern auch ein „Répertoires des œuvres“ enthält. Dieses „Répertoire“ erschließt auch die Forschung, die sich mit den „enfers“, der Reservatensammlung der Bibliothèque Nationale mit ihren einschlägigen Beständen befasst, darunter die siebenbändige Textauswahl sowie das Verzeichnis von Pascale Pia (an der ersten Bibliographie war übrigens Guillaume Apollinaire beteiligt gewesen).

Schwieriger ist die Forschungslage hingegen für Deutschland. Einige der erzählenden Texte des 18. Jahrhunderts aus Deutschland sind in Neuausgaben erschienen, deren philologische Qualität meist zweifelhaft ist. Ein gleiches gilt für die Übersetzungen aus dem Französischen. Wissenschaftlich ergiebige und geistreich kommentierte Neudrucke wie die der Phantasien in drei priapischen Oden durch Ulrich Joost fehlen praktisch ganz. Dabei wäre die Ausgangslage gar nicht so schwierig, wäre das Material je ausgewertet worden: Die von Hugo Hayn und Alfred N. Gotendorf von 1912 bis 1929 zusammengestellte Bibliotheca Germanorum erotica & curiosa gibt entscheidende Hinweise auf das Material. Nur erschwert die Unkonturiertheit dieser neunbändigen bibliographischen Sammlung (oft mit Exemplarzuweisungen) ihre Benutzung extrem (ein Registerband erschien erst 1990), nicht zu reden davon, dass sie bei weitem nicht nur libertine Literatur erfasst, sondern auch ‚Curiosa‘ (dafür nur eingeschränkt freigeistige Texte). Dazu kommt ihr Alter: Die acht Hauptbände sind 1912-1914 erschienen, der Ergänzungsband 1929; viele Angaben, gerade auch die wichtigen zu den einzelnen Exemplaren, sind also veraltet und müssen von Grund auf neu recherchiert werden. VD18 und die Digitalisate der ÖNB vereinfachen den Zugang zu einem Teil der Literatur, aber Stichproben haben gezeigt, dass die Suchen danach nicht unbedingt vereinfacht wird.

Was die Forschungsliteratur angeht, hat sich die Lage in den letzten Jahren etwas verändert. Den Grund dafür, dass die libertine Literatur lange mit Schweigen übergangen wurde, lässt ein Blick in Werner Fulds neuere Geschichte des sinnlichen Schreibens ahnen: Fuld spricht den deutschen Autoren eine erotische Sprache, ja geradezu die Fähigkeit, eine solche zu entwickeln, ab, ein pauschales Urteil, von dem Wilhelm Heinse gar nicht und Goethe nur partiell ausgenommen bleibt. Vor allem aber sagt die Qualität der erotischen Sprache nichts über die libertinen Ideen eines Textes aus. Den Libertinismus Heinses hat Markus Bernauer in großen Zügen dargelegt, bei Goethe ist dieses Thema bis heute nicht aufgearbeitet, obwohl es für die Römischen Elegien und die Venezianischen Epigramme auf der Hand liegt und auch in der Italienischen Reise untergründig mitläuft (dort vor allem in Form der antikirchlichen Freigeisterei).

Fuld hat darüber hinaus immerhin einiges Material aufgearbeitet, das er im Kapitel „Das deutsche Trauerspiel“ zusammengestellt hat. Eine größere Zusammenstellung von frühen sogenannten „galanten Romanen“ hat jüngst Katja Barthel in Gattung und Geschlecht. Weiblichkeitsnarrative im galanten Roman um 1700 (2016) bereitgestellt, wobei hier noch zu untersuchen ist, inwieweit lustzentrierte, d. h. auf die Lust des Lesers zielende Romane notwendig auch libertinistische Romane sein müssen. Den französischen Voraussetzungen des deutschen Libertinismus spürt Yong-Mi Quester in ihrer Dissertation nach, die sich mit den Übersetzungen französischer ‚freizügiger‘ Romane ins Deutsche befasst. Die Studie von Emanuelle Buis (Circulations libertines dans le roman européen (1736-1803). Étude des influences anglaises et françaises sur la littérature allemande. Paris 2011) befasst sich weniger mit dem Libertinismus als mit der Figur des Libertin, so dass auf der einen Seite neben den Liaisons dangéreuses auch Richardons Clarissa (Lovelace) und auf der anderen neben Heinse auch Jean Paul (Roquairol) zum Zuge kommen. Studien von Urszula Bonter („Wollen wir uns entkleiden?“ Zur Präsenz des Erotischen im deutschen Roman zwischen 1747 und 1787. Hannover 2000) und K.F. Hilliard (Freethinkers, Libertines and „Schwärmer“. Heterodoxy in German Literature, 1750–1800. London 2011) näherten sich in jüngster Zeit dem Gegenstand an.

Die wichtigsten Arbeiten, die sich mit dem vorliegenden Gegenstand berühren, sind in den letzten Jahren von Martin Mulsow vorgelegt worden. Mulsow erforschte die Freigeisterei von der frühen Neuzeit bis zu ihren Ausläufern in der Spätaufklärung in mehreren Monographien und Aufsätzen. In Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745 (2007) hat Mulsow mehrere radikal-aufklärerische Texte mit einer fundamentalen Religionskritik versammelt und ausführlich eingeleitet. Dabei entmarginalisiert er die freigeistige Radikalaufklärung nicht nur und verfolgt sie ins Zentrum der deutschen Geistesgeschichte, sondern spürt vor allem „kryptischen Konstellationen“ nach, untergründigen Netzwerken scheinbarer Einzelgänger, die wirkungsmächtige Denkräume bilden. Die Essaysammlung Die unanständige Gelehrtenrepublik verhandelt als „libertinage érudit“ u. a. „philologische Libertinage“, die libertine (auch sexuelle) Umdeutung kanonischer Texte. Zusammen mit Dirk Sangmeister hat Mulsow im Herbst 2018 auch den Band Deutsche Pornographie in der Aufklärung herausgegeben, der auf eine 2015 in Gotha veranstaltete Tagung zurückgeht. Der Band, und darin nicht zuletzt Sangmeisters umfangreicher Beitrag, geben der Forschung zur erotischen Literatur im 18. Jahrhundert und darüber hinaus der Literaturgeschichte des Jahrhunderts insgesamt schon alleine durch das überreich zutage geförderte Material, aber auch durch neue Fragestellungen wichtige Impulse, die auch über die wenig ältere, aber den Gegenstand historisch breiter fassende Aufsatzsammlung von Friedrich, Hanuschek und Rauen hinausgehen.[1]

 


[1] Hans-Edwin Friedrich; Sven Hanuschek; Christoph Rauen (Hrsg.): Pornographie in der deutschen Literatur. Texte, Themen, Institutionen. München 2016.