Libertinismus in Frankreich

Sieht man einmal von den freigeistigen Diskursen des 16. und 17. Jahrhunderts und der Auseinandersetzung mit dem Epikureismus in der Philosophie des 18. Jahrhunderts ab, so sind es vor allem die erzählende Literatur und die Lyrik, die libertine Inhalte transportieren. Die Kritik an der kirchlichen Orthodoxie lässt sich in poetischen Texten anders als in diskursiven so schillernd uneindeutig verpacken, dass sich die Verfasser vor der Verfolgung durch die Obrigkeit sicherer wähnen mochten. Ernst Fischer hat am Beispiel der (deutschen) Anakreontik die These entwickelt, dass dies der unauffälligen Verpackung eines freigeistigen Inhalts dienen könne.[1] Der Gedanke der ‚verpackten‘ Philosophie ist auch für einige der frühen libertinen Texte in Frankreich bedenkenswert: So ist der berühmte Parnasse des poètes satyriques von 1623 eine Sammlung von libertinen Stücken, deren Verfasser geltend machen konnten, sie würden nur Missstände anprangern. Dass die Rechnung nicht immer aufging,  zeigt die Einkerkerung von Théophile de Viau.

Auf die Verpackungen verzichten die Autoren der Pariser Aufklärung dann fast vollständig – oder sie spielten damit. Ein besonders interessanter Fall ist der 1748 erschienene Roman Thérèse philosophe, der heute einmütig Jean-Baptiste de Boyer, Marquis d’Argens zugeschrieben wird (Kammerherr am Hof Friedrichs II. und ab 1744 Direktor der Philologischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften), besonders interessant, weil sie die Philosophie im Titel nennt und nicht nur auf die ‚Verpackung‘ der erotischen Szenen verzichtet, sondern gewissermaßen den Körper denken lässt. Die Titelheldin erlebt, als sie ihren Körper erforscht und die verschiedenen Formen der Lust, die er bietet, entdeckt, nicht nur, wie ihre Gesundheit sich wieder herstellt, sie durchlebt auch einen Prozess intellektueller Aufklärung, das Mündigwerden ihres Geistes:

Les ténèbres de mon esprit se dissipaient: peu à peu je m’accoutumais, à raisonner conséquemment. Plus de père Dirrag pour moi, plus d’Eradice.[2]

Am Franziskanerpater Dirrag und seinem Zögling, Thereses Freundin Eradice, hatte die Erzählerin erstmals Formen sexueller Lust beobachtet, freilich in der von Dirrag genährten Annahme, sie seien ein himmlisches Vergnügen. Das kirchliche Verbot der außerehelichen Sexualität und erst recht der Zölibat der Mönche ist Ausdruck der theologischen Verachtung der Natur und der natürlichen Bedürfnisse. Darüber spricht der Abbé T., der Mentor Thereses:

Mais qu’est-ce que c’est que la nature? Est-ce un autre Dieu que nous ne connaissons pas? Agit-elle par elle-même et indépendamment de la volonté de Dieu? Non, dit encore sèchement le théologien. Comme Dieu ne peut pas être lʼauteur du mal, le mal peut exister que par le moyen de la nature. Quelle absurdité![3]

Der Abbé argumentiert so gegen die katholische Sexual- und Ehelehre, die von Paulus und von den Kirchenvätern her, am folgenreichsten von Augustinus, die sexuelle Lust als Folge des Sündenfalls ansieht und an eine willensgesteuerte, lustfreie Fortpflanzungsform im Paradies glaubt. Auch Luther und die reformierten Theologen stießen dieses Prinzip nicht um und noch Innozenz XI. verwarf 1679 den Lehrsatz des spanischen Geistlichen Johannes Sanchez, wonach ein ehelicher Akt, der allein um der Lust willen vollzogen werde, sündenfrei sei.[4] Wer die sexuelle Lust um ihrer selbst willen (ohne Zeugungsabsicht) nicht nur zulässt, sondern geradezu bejaht, bejaht den Sündenfall und die daraus entstandene Welt, bejaht die Auflehnung des Menschen gegen Gott und seine „absolute Autonomie unter Vergötzung seiner eigenen geschöpflichen Möglichkeiten“[5]; und er verneint – als Häretiker – auch die Macht der Kirche über die Menschen. Dies der orthodoxe theologische Blick auf die Sexualität. Wenn der Abbé gegen diesen Blick eine Gottesidee anführt, der alles entspringe, die Lust und der Schmerz, einen Gott, für den es nichts an sich Böses in der Welt gebe, so ist er demnach ein Häretiker, erst recht mit seiner Überzeugung, die Aufklärung überwinde mit einem falschen Naturbegriff, den der menschliche Geist einst selber hervorgebracht habe[6], auch die orthodoxe Theologie – ein Vorgang, der sich im Übrigen der Lust verdankt, nicht der Rationalität, wie Thérèse es an sich selber beobachtet. Robert Darnton gibt daher 1994 einem Essay den Titel Sex for Thought – ein Gedankenbild, für das sich freilich schon seit dem 16. Jahrhundert der Begriff des „Libertinismus“ verbreitet hat: Die Bejahung der Lust ist Ausdruck der Abkehr von der orthodoxen Theologie, um Kants berühmtes Zitat aufzunehmen, „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Radikaler formuliert: Die Sterblichkeit der Seele gibt dem Menschen alle Rechte, seine leiblichen Lüste auszuleben. Dreht man Ursache und Wirkung dieses letzten Satzes um, versteht man, warum die Vertreter der kirchlichen Weltordnung sich von der libertinistischen Schriftstellerei und Philosophie viel mehr als von der Libertinage selber an ihrer Wurzel  angegriffen fühlten.

Boyer d’Argens hat mit Thérèse philosophe nicht die Unsterblichkeit der Seele geleugnet, wohl aber sich von der theologischen Naturerklärung abgewandt. Trotzdem liegt hier ein idealtypischer libertiner Roman vor, der sich ausdrücklich über theologische Grundsätze hinwegsetzt. Wenn die Natur als eine Form Gottes nicht böse sein kann oder wenn sie ohne Gott gedacht werden muss und die Seele nicht unsterblich ist, dann können die von der Natur dem Menschen angebotenen Befriedigungen frei angenommen werden. Glaubenslosigkeit (jedenfalls im orthodoxen Sinne als Unterwerfung unter die Gesetze der Kirche) und weitgehende Freiheit der (Sexual-)Moral fallen zusammen – ein Produkt der Aufklärung, das bis heute direkt nachwirkt, übrigens auch in den konservativen Kulturkämpfen, die für die Restitution von Glauben und Sexualmoral gleichermaßen ausgetragen werden.

In Frankreich sind die libertinen Strömungen des 17. und 18. Jahrhunderts in mehreren Sammlungen hervorragend dokumentiert, so dass es nicht schwierig ist, sich einen Überblick zu verschaffen. Mehr als ein Auszug aus der monumentalen Sammlung von Frédéric Lachèvre (1909–1924) sind die beiden von Jacques Prévot in der Bibliothèque de la Pléiade herausgegebenen Bände der Libertins du XVIIe siècle; sie versammeln neben Gedichten von Théophile de Viau und anderer Beiträger des Parnasse satyrique, Tristan L’Hermites Roman Le page disgracié, Cyrano de Bergeracs L’autre monde und dem in der Nachfolge von Aretinos Hetärengesprächen stehenden Dialog L’École des filles eine Reihe von freigeistigen oder philosophischen Abhandlungen wie Pierre Bayles Pensées diverses sur la comète oder Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes. Die sechste Abhandlung des ursprünglich lateinischen Theophrastus redivivus, dessen Verfasser bis heute nicht bekannt ist, vertritt nach der Absage an Gott, Ewigkeit der Schöpfung und Unsterblichkeit der Seele eine radikal antimetaphysische Position, eine Art Frühfassung des ‚L’homme machine‘, wonach der Mensch nichts anderes sei als ein Tier. Als einer der radikalsten libertinistischen Texte des 17. Jahrhunderts, verkündet er das Leben nach der Natur, die kein Gut und Böse kenne, ein Leben ohne Gesetze, Sitten und gesellschaftlich aufgezwungene Standpunkte. Die verbreitetste libertinistische Erzählung um 1700 schließt hier an: Vénus dans le cloître ou la religieuse en chemise, erschienen unter dem Namen eines Abbé Du Prat, ein Buch, von dem indes weder der Verfasser noch das genaue Erscheinungsdatum bekannt sind – die derzeit älteste erhaltene Ausgabe datiert aus dem Jahre 1683, aus dem auch eine englische Übersetzung überliefert ist. Nicht nur verkehrt darin das Gespräch zwischen den beiden Nonnen Angélique und Agnès die christliche Moral in ihr Gegenteil, ihr Handeln stellt auch die Regeln klösterlichen Lebens auf den Kopf, wenn sie keine Form der Liebe und des Liebesgenusses scheuen. Angélique begründet dies naturphilosophisch: „Il est vrai qu’il est bien doux de se laisser conduire à cette nature pure et innocente, en suivant uniquement les inclinations qu’elle nous donne.“[7] Der philosophisch überhöhte erotische Dialogroman weist voraus auf das 18. Jahrhundert; und so ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass Vénus dans le cloître zu den vom jungen Diderot geschätzten Büchern gehörte.[8]

Wie schon das Beispiel Diderots zeigt, waren libertine Bücher – und mit ihnen libertines Gedankengut – nach der Régence zumindest in Paris verbreitet und greifbar; die wichtigste Sammlung hat Patrick Wald Lasowski wiederum in der Bibliothèque de la Pléiade besorgt. Die reichhaltige Sammlung bezeugt eine emsige und wenig verborgene Produktion; mindestens hier stimmt Diktum des Herausgebers: „le libertin lui-même est clandestin“ nicht mehr ganz, libertine Druckschriften (nicht selten mit anzüglichen Illustrationen ausgestattet) waren ein Geheimnis, von dem die Leser genau Bescheid wussten. Und es lasen sie die ‚philosophes‘ und Schriftsteller, die Hof- und Kaufleute, die Lebemänner und -frauen – und die Kleriker. Dass viele von ihnen selbst der Libertinage frönten, änderte nichts daran, dass die Geistlichkeit und die weltlichen Behörden in Frankreich einen Kampf gegen schlüpfrige und erst recht gegen freigeistige Bücher führten.[9] Jean Marie Goulemot führt neben einer 1759 entstandenen, aber erst 1814 veröffentlichten Schrift von Lamoignon de Malesherbes vor allem den zu Beginn des 18. Jahrhunderts niedergeschriebenen, aber ebenfalls erst 1817 gedruckten Discours inédit sur le danger des mauvaises lectures des Theologen Jean-Baptiste Massillon an. Massillon unterscheidet „deux sortes de livres dangereux: les livres frivoles et les livres lascifs; les uns dissipent l’esprit, affoiblissent en nous la vie de la grace, et nous disposent à l’oubli de Dieu; les autres corrompent le cœur et conduisent l’homme à incrédulité.“[10] Erstere würden dabei im Grunde weder die guten Sitten noch die Religion angreifen, seien aber durch die Zerstreuungen, die sie böten, durch die Nichtigkeiten und sinnlosen Bagatellen, die sie erzählten, der Lektüre eines Christen unwürdig (ein auch später immer wiederholter Vorwurf gegen Unterhaltungsliteratur). Anders jene Bücher, die Massillon „lascifs“ nennt: Sie zerstörten die Keuschheit, dieses wichtigste Gut des Menschen, und führten diesen schließlich vom Glauben ab, denn „l’incrédulité est dans déréglement des mœurs“. Diese Bücher – wir würden sie libertin nennen – führen den Menschen von Gott weg, weil sie ihm die Vollkommenheit in den Erfüllungen seiner körperlichen Lust im Diesseits versprechen:

Le paradis ne lui a plus paru qu’une chimère, parce que, plongé dans la fange des voluptés terrestres, il ne supposoit pas des plaisirs plus grands que les monstrueux plaisirs; l’enfer un fantôme, parce que ses membres qu’il faisoit servir au péché y devoient être dévorés par des flammes que la main de L’Eternel avoit allumées; Dieu même, un vain épouvantail, parce que Dieu patient, par là même qu’il est éternel, vengeroit ses dons et ses miséricordes profanées par des supplices immortels.[11]

Vielleicht noch interessanter als diese wohl im frühen 18. Jahrhundert entstandene Definition von Libertinismus aus der Hand eines Theologen ist Mabillons ‚Medienschelte‘, richtet sich doch die kleine Abhandlung keineswegs gegen jene Libertinage, von deren Ausbreitung am Hofe des Regenten Philipp von Orléans er Zeuge war, sondern gegen die Bücher, gegen die einen, weil sie den Menschen schlicht ablenken, gegen die anderen aber, weil sie Unkeuschheit als nachahmenswert in die Welt tragen, weil sie mit anderen Worten eigentliche Verführer sind. Ein libertines Buch ist sittenverderbender als ein Libertin.

So erstaunt es nicht, dass auch im Jahrhundert der Aufklärung viele der libertinen Romane und Erzählungen nur anonym und mit fiktiven Verlagsangaben und Druckerorten erscheinen konnten. Die Bücher wären aus dem Verkehr gezogen worden, wäre man der Autoren und Drucker habhaft geworden. Allerdings riskierten diese, anders als ihre Vorläufer im 16. und 17. Jahrhundert,  nicht mehr den Scheiterhaufen – zu schnell verbreitete sich im 18. Jahrhundert auch dank der immer günstigeren Buchproduktion libertines Gedankengut. Dies gilt nicht nur für die im engeren Sinne libertinen Romane und Erzählungen, angefangen mit Crébillon fils und der berüchtigten Histoire de Dom B über Godard d’Aucour und Voisenon, die bereits erwähnte Thérèse philosophe des Marquis Boyer d’Argens und Restif de la Bretonne bis hin zu Mirabeaus Ma conversion (viele davon sind übrigens mit libertinistischen Grafiken ausgestattet, bei denen das Verhältnis von Bild und Text eine eigene Untersuchung erfordert), sondern auch für die ‚Meisterdenker‘ Denis Diderot (Les Bijoux indiscrets) und Voltaire (z.B. La pucelle d’Orléans). Diderot steht für eine neue Wendung des Libertinismus, die man als parallele Entwicklung zu Rousseaus Kritik der französischen Gesellschaft lesen muss. Kurz nach 1772 verfasste Diderots eine Rezension von Bougainvilles Voyage autour du monde, die er zu einer eigenen Schrift ausbaute, die allerdings erst 1796 erschien: Supplément au voyage de Bougainville ou Dialogue entre A et B. Diderot führt darin gegen die ‚guten Sitten‘ der nach wie vor von der Kirche geprägten französischen Gesellschaft und die darin herrschende Heuchelei eine Gesellschaft ins Feld, in der die Menschen ihrer Natur nachleben – ein Gedanke libertinistischer Provenienz, gewendet zur Zivilisationskritik.

Marquis d'Argens, Thérèse philosophe (1748), mit der Signatur "Enfer"

Marquis d'Argens, Thérèse philosophe (1748), mit der Signatur "Enfer"

Als Zivilisationskritik ging der Libertinismus in das 19. Jahrhundert ein, in dieser Form prägte er noch die 68er Bewegung des 20. Jahrhunderts. Die erotischen Romane und die freigeistige Philosophie freilich verschwanden nach der Französischen Revolution und erst recht nach der Restauration der Bourbonen-Monarchie in Frankreich in den Untergrund. In der Pariser Bibliothèque Nationale wurde 1830 ein Raum für Bestände eingerichtet, die dem Publikum verschlossen bleiben sollten: L’Enfer – eine ‚Hölle‘, die vor allem Werke erotischen Inhalts umfasste. Dass die Schriftsteller in Frankreich nicht auf die libertine Verbindung von Freiheiten der Liebe, des Denkens und des Schreibens verzichten wollten, zeigt sich freilich schon an den Romantikern Alfred de Musset und Théophile Gautier. Ein Lyriker, der selber einen pornographischen Roman verfasst hatte, war es denn auch, der entscheidenden Anteil an der Öffnung der Hölle hatte: Guillaume Apollinaire war 1913 an ihrer bibliographischen Aufarbeitung beteiligt[12], mit der die Forschungsgeschichte des Libertinismus beginnt. Als 1969 die Abteilung aufgelöst wurde, waren libertine Kernideen im Zuge der 68er in der Mitte der Gesellschaft angekommen, meist noch ohne von den Zeitgenossen mit dem historischen Libertinismus verbunden zu werden.

 


[1] Ernst Fischer: „Er spielt mit seinen Göttern.“ Kirchen- und religionskritische Aspekte der anakreontischen Dichtung in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Les Lumières et leur combat. La critique de la religion et des Églises à lʼépoque des Lumières / Der Kampf der Aufklärung. Kirchenkritik und Religionskritik zur Aufklärungszeit. Hrsg. von Jean Mondo, Berlin 2004, insbes. S. 84.

[2] Romans libertins du XVIIIe siècle, Bd. 1. S. 904.

[3] Ebd. S. 912.

[4] Waldemar Molinski: Theologie der Ehe in der Geschichte. Aschaffenburg 1976 (Der Christ in der Welt : 7. Reihe, Die Zeichen des Heils ; 7a/b), S. 188.

[5] Renate Brandtscheidt: Art. „Sündenfall“. In: LTK3, Sp. 1132.

[6] Romans libertins du XVIIIe siècle, Bd. 1, S. 912.

[7] Œuvres érotiques du XVIIe siècle. Paris 1988 (L’Enfer de la Bibliothèque Nationale, hg. von Michel Camus, Bd. 7, S. 316.

[8] Jacques Rustin: Préface, in: ebd. S. 305.

[9] Jean Marie Goulemot: Gefährliche Bücher. Erotische Literatur, Pornographie, Leser und Zensur im 18. Jahrhundert. Reinbek b. Hamburg 1993, S. 15ff.

[10] Jean-Baptiste Massillon: Discours inédit de Massillon, sur le danger des mauvaises lectures ... Paris 1817, S. 1.

[11] Ebd. S. 11f.

[12] Icono-bio-bibliographie descriptive, critique et raisonnée (1913), 1919 neu als Bibliographie méthodique et critique de tous les ouvrages composant cette célèbre collection.